Die Publikation untersucht transnationale islamistische Allianzen und ihren Einfluss in Europa.
Eine neue Studie der Dokumentationsstelle Politischer Islam (DPI) analysiert die transnationalen Netzwerke zweier islamistischer Bewegungen des Nahen Ostens und der Türkei und deren Einfluss auf die muslimische Bevölkerung in Europa. In der Publikation mit dem Titel „The AKP and the Muslim Brotherhood: Making and Unmaking an Islamist Alliance in the Middle East and Europe“ nimmt Studienautor Jan-Markus Vömel zwei bedeutende Strömungen aus dem Spektrum des Politischen Islams in den Fokus: Die Ende der 1920er Jahre in Ägypten entstandene Muslimbruderschaft, die zum Wegbereiter islamistischer Organisationen wurde, und die Milli-Görüş-Bewegung, aus der in der Türkei die mittlerweile seit Jahrzehnten politisch dominierende AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) hervorging.
Während sich die Milli-Görüş-Ideologie mithilfe der türkischen Regierungspartei AKP unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan etablieren konnte, wurde die Muslimbruderschaft in ihrem Ursprungsland Ägypten verboten. Sie ist jedoch im Untergrund und auch in anderen Ländern mit verschiedenen Ablegern aktiv. Aus dem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft ging Ende der 1980er Jahre die Terrororganisation Hamas hervor, die auch nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 von der türkischen Regierung unterstützt wird. Zudem verbreitet sie über verschiedene Kanäle und Mediennetzwerke auch Hamas-Propaganda und andere islamistische Narrative mit antiwestlichen Botschaften. Damit wird gezielt Einfluss auf die türkischsprachige Community in Europa genommen.
„Im Arabischen Frühling sah es kurz so aus, als könnte die ganze Region von populistisch-islamistischen Parteien nach türkischem Vorbild beherrscht werden. Doch dazu kam es nicht. Die Türkei ist mit ihren Plänen zur regionalen Vorherrschaft gescheitert, doch sie hat mitnichten ihre Ambitionen verloren. Heute versucht sie diese nur auf anderem Wege umzusetzen. Interessant ist dabei, wie sehr die islamistischen Bewegungen sich in Europa frei vom Druck autoritärer Regime in der Heimat austauschen konnten“, erklärt Vömel, der auf globale religiöse Bewegungen und die Geschichte der modernen Türkei spezialisiert ist. Der Studienautor weist darauf hin, dass nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings die Hamas heute der letzte große Partner der AKP aus dem Lager der Muslimbruderschaft ist.
Trotz unterschiedlicher historischer und regionaler Entstehungskontexte sind die beiden Strömungen über ihre ideologische Ausrichtung miteinander verknüpft, sie sehen sich als verbundene Bewegungen im Geiste eines „globalen islamischen Erwachens“. Die Studie legt die vielfältigen personellen und strukturellen Überschneidungen offen, die es in der Vergangenheit zwischen den beiden Strömungen gab. Unter anderem entwickelten sich in Europa Kontakte, insbesondere über Organisationen wie die IGMG (Islamische Gemeinschaft Millî Görüş) und Ableger der Muslimbruderschaft. Die türkische Religionsbehörde Diyanet (Diyanet İşleri Başkanlığı) arbeitet über Institutionen wie DITIB (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği) in Deutschland oder ATIB (Avusturya Türkiye İslam Birliği) in Österreich vereinzelt auch mit Akteuren zusammen, die der Muslimbruderschaft nahestehen. So nahmen beispielsweise Personen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft im Jahr 2019 am „Treffen europäischer Muslime“ der DITIB teil.
„Die DPI-Studie beleuchtet, wie der Politische Islam über nationale Grenzen hinweg agiert und seine Ideologien in europäischen Ländern verbreitet. Die transnationalen Verflechtungen werfen zahlreiche Fragen auf – etwa, wie die europäischen Gesellschaften mit der wachsenden Einflussnahme politisch-religiöser Gruppierungen umgehen und sicherstellen können, dass die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat gewahrt bleiben“, so Lisa Fellhofer, Direktorin der Dokumentationsstelle Politischer Islam.